Abt.: Tunnelfetisch
Peinlich: Die zweite Stammstrecke
Verkehrspolitik ist ein schwieriger Bereich, der bitte mit viel Sachverstand und vor allem mit einem gerüttelt Mass an Weitblick betrieben werden möchte. Traditionell werden bei uns jedoch die wichtigsten Posten mit den kleinsten Lichtern besetzt. Schade das ist. Sehr schade.
Keine Angst, ich ziehe jetzt nicht weiter über Scheuer und Dobrindt her. Und auch nicht über Wissing. Auch wenn sie es verdient hätten. Wir können schlechte Verkehrspolitik auch ohne diese Granaten. Es soll hier vielmehr um die Situation der S-Bahn in München gehen. Und wenn ich den Begriff S-Bahn in München in den Mund nehme, dann sehe ich bei vielen schon das unruhige Zucken und den Griff zu Stimmungsaufhellern. Die S-Bahn ist nun wirklich ein Jammertal.
Kennt ihr die vier Feinde der S-Bahn? Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Der Münchner S-Bahn ist es im Winter zu kalt, im Sommer zu heiss, im Frühling zu früh und im Herbst... egal, irgendwas ist immer.
Jedenfalls lässt die Pünktlichkeit zu wünschen übrig. Und die Wünsche werden von Jahr zu Jahr größer. Ganz als würde sich die Technik zurück entwickeln. Macht sie nicht. Bin ich mir sicher. Sie entwickelt sich schlicht nicht weiter und veraltet damit von ganz alleine. Und weil in Modernisierung und Ausbau über lange Jahre nicht D-Mark und nicht Euro investiert wurde, ist Technik und Gleiskörper marode wie eine Kommode mit Holzwurm.
1972 hatte München etwa 1,25 Millionen Einwohner und man fand es eine smarte Lösung, einen Tunnel einmal quer durch München zu buddeln, um das Umland mit der Innenstadt zu verbinden. Und ich bin mir sicher, für die Zeit war das eine smarte Lösung und zukunftsweisend und echt ganz prima für München. Das war sicher auch 1980 noch so und auch 1995. Da hat das ganz gut funktioniert.
Bis dahin gab es gelegentlich mal neue Züge. Es wurde hier ausgebessert und dort auch. Die Technik hat sich vergleichsweise langsam weiter entwickelt. Computer waren noch nicht so toll. Die Einwohnerzahl ist nicht gestiegen. Und es wahr vielleicht auch noch nicht so klar ersichtlich, wohin sich München entwickeln wird. Visionäre Pläne für einen Ausbau oder eine Modernisierung für die S-Bahn gab es nicht. Wurde augenscheinlich auch nicht gebraucht.
Dann aber, zu Beginn des neuen Jahrtausends, sind zwei oder drei Dinge passiert, die die Deutsche Bahn insgesamt und die Münchner S-Bahn im speziellen nachhaltig beschädigt haben. Ein gewisser Herr Mehdorn hat versucht, die Bahn auf Börsenkurs zu trimmen. Dazu musste sie - wenigstens kurzzeitig - rentabel aussehen. Und wie macht man ein angestaubtes Unternehmen wie die Bahn rentabel? Man spart an allen Ecken und Enden. Insbesondere an Personal, Instandhaltung und Modernisierung.
Gleichzeitig hat die Entwicklung des Computers mit seinen Möglichkeiten rasant an Fahrt aufgenommen. Wo anderen Orts Signalanlagen bereits softwaregesteuert funktioniert haben, wurde hierzulande noch an die Schrankenwärter gekabelt, wann der nächste Zug kommt.
Dazu dann noch die Bevölkerungsentwicklung in München zusammen mit zeitgemässen Mobilitätswünschen. Nicht nur die Bevölkerungszahl Münchens ist gewachsen (und tut es noch), auch der Einzugsbereich hat sich enorm ausgedehnt. Pendler auch aus Augsburg, Ingolstadt und Rosenheim möchten ihre Arbeitsplätze in der Stadt erreichen.(1)
Was sich nicht entwickelt hat, das ist das Streckennetz der S-Bahn. Vergleicht man einen Plan von 1972 mit einem von 2022, dann gleichen die sich auf beschämende Weise.(2)
Jetzt soll - und das ist nicht neu - ein zweiter Tunnel helfen. Ein Tunnel, bei dem bereits zu Baubeginn klar ist, dass er wenigstens das Dreifache der ursprüngliche geplanten Kosten verschlingen wird. Der frühestens 10 Jahre nach der ursprünglich geplanten Bauzeit eröffnet werden wird.
Dass ein Mammut Projekt wie ein zweiter Tunnel quer durch eine Großstadt der dynamischen Entwicklung einer Großstadt niemals gerecht werden kann, liegt auf der Hand. Das veranschaulicht der Tunnel der Stammstrecke auf das Peinlichste.
Ich stehe mit meinen Bedenken nicht alleine. Auch im Stadtrat wird diskutiert. Und anderen Ortes, hier ein Auszug aus Facebook:
Der eine:
Darüber, ob die 2.Stammstrecke oder ein Ring die bessere Lösung gewesen wäre, kann man zwar streiten, aber jetzt abzubrechen und dann erstmal wieder ins Planungs- und Genehmigungsverfahren für die Ringlösung einzutreten (von Baubeginn will ich gar nicht reden) bedeutet, dass man auch nicht schneller fertig wird. Im Übrigen gilt das Cheops-Gesetz von Heinlein: "Kein Bauwerk wird innerhalb des Kostenvoranschlages und innerhalb der vorgesehenen Zeit fertig."
Der andere:
Es geht jetzt allerdings nicht darum, was besser gewesen wäre, weil das würde ja voraussetzen, dass es etwas gibt, über das man streiten könnte. Es gibt allerdings nichts, ausser den ständig teurer werdenden Traum, vielleicht einen Tunnel in fernster Zukunft zu bekommen. Von 2037 ist die Rede. Wir haben jedoch jetzt und heute massive Probleme mit dem MVV, die besser zeitnah in den Griff bekommen werden sollten.
Ich denke, ich lehne mich nicht aus dem falschen Fenster, wenn ich Verkehrspolitik mit Softwareprogrammierung vergleiche. Beides findet in einem sich ständig ändernden, dynamischen Umfeld statt. Und beides hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass heute geplantes morgen schon überholt sein kann. Folglich bedarf es in beiden Disziplinen ständige Kontrolle und Nachschärfung. Besonders bei lange laufenden Projekten. Nicht vergleichbar ist natürlich der Umstand, dass Verkehrsplanung um Welten unflexibler ist, als Softwareentwicklung. Und doch kann der Verkehrsplaner vielleicht vom Programmierer lernen.
In der Softwareentwicklung werden nämlich große und größte Projekte in möglichst kleine und kleinste Einheiten zerlegt, die fortlaufend abgearbeitet, getestet und im Bedarfsfall zeitnah geändert werden.
Ein Tunnel quer unter einer Großstadt hindurch ist ungefähr genau das Gegenteil. Das lässt sich nicht in kleine Einheiten zerlegen, die schnell und flexibel an geänderte Voraussetzungen angepasst werden können. Als der Tunnel geplant wurde, da gab es noch keine E-Bikes und Pedelecs. Da gab es keine Cargobikes und keine E-Scooter. Da gab es auch keine Testläufe von Seil- oder Ottobahn.
Was es jedoch bereits gegeben hat, dass ist der insgesamt schlechte Zustand der Deutschen Bahn. Der schlechte Zustand des Gleiskörpers, der Züge, der Software, der Wartung. Und der Zustand hat sich seit dem unsäglichen Plan, die Bahn an die Börse zu bringen und um der Wirtschaftlichkeit Willen kaputt zu sparen, konsequent und konstant verschlechtert. Insbesondere der Unfähigkeit und Inkompetenz der CSU Verkehrsminister ist es zu verdanken, dass weder im Nahverkehr, noch im Fernverkehr irgend etwas zuverlässig funktioniert.
Sehr gelungen in diesem Zusammenhang finde ich folgende beiden Anekdoten:
1. Durchsage am Bahnhof: "Bei der ICE Verbindung von München nach Paris ist mit erheblichen Verspätungen und Zugausfällen zu rechnen. Der TGV fährt planmässig." Leute, der TGV nutzt die selben Gleise wie der ICE. Was kann der TGV, was der ICE nicht kann? Fliegen?
2. Werbung der Deutschen Bahn für Nachtverbindungen zum Beispiel nach Wien... die Verbindungen werden von der ÖBB und deren Nightjet übernommen.
Aber zurück zur Situation in München. Es ist natürlich schade, dass im Schatten der Tunnel-Megalomie eine sinnvolle und rationale Verkehrsplanung unterlassen wurde. Das ist es.
Wenn es jedoch darum geht essentiell wichtige Projekte auf den Weg zu bringen, dann geht es vor allem um den Willen, dies zeitnah zu machen. Planungs- und Genehmigungsverfahren sind menschengemacht und können daher auch von Menschen beschleunigt oder verschleppt werden. Ein allseits bekanntes Beispiel dafür, wie etwas echt richtig schnell auf die Spur gebracht werden kann wenn es zwickt, das sind die Flüssiggasterminals, die quasi über Nacht entstanden.
Insofern, ja, ich bin mir sicher, dass Alternativen zu der Tunnellösung wichtig, richtig und zeitnah möglich sind.
(1) [de.wikipedia.org]: Einwohnerentwicklung von München
(2) [www.u-bahn-muenchen.de]: S-Bahn Streckennetz 1972
[www.u-bahn-muenchen.de]: S-Bahn Streckennetz 2022
[www.abendzeitung-muenchen.de]: Müssen diesen Wahnsinn stoppen!